I hate myself and want to die…

…betitelt Tom Reynolds sein Buch über die „52 deprimierendsten Songs aller Zeiten“, und bei mir lags vor kurzem unter dem Weihnachtsbaum. „Ich war wegen was anderem in der Buchhandlung, dann sah ich dieses Buch und musste an dich denken“, ich kann mir schrägere Geschenkanlässe vorstellen, aber der hatte mich sehr gefreut. Danke nochmal. Aber zur Sache.

Ich hatte das Buch am ersten Weihnachtsfeiertag durch, was um einen an meiner schnellen Leserei, um anderen am lockeren Stil und am überschaubaren Umfang (260 Seiten) liegt. Auf diesen 260 Seiten breitet Reynolds besagte 52 Songs aus, jeweils gegliedert in Überblick, Songbeschreibung und Begründung, warum er deprimiert. Das ganze dann noch eingeordnet in schöne Kategorien mit wenigen, aber wunderhybschen Illustrationen. „Wenn ich über Drogen rede, wird man mich ernst nehmen“ nennt sich so eine Kategorie dann beispielsweise, oder die (wenig überraschend umfangreichste) Sammlung „Ich erzähle eine Geschichte, die keinen interessiert“.

Reynolds hatte von Anfang an einen schweren Stand bei mir. Das liegt daran, dass ich als erstes natürlich die Songliste ansah, und dort „Hurt“ von NIN, „The End“ von den Doors, „Love will tear us apart“ von Joy Division sah, hingegen kein Track von Neurosis, *nichts* von AIC, trotz der Drogenkategorie, Himmel, kein Steve von Till. Stattdessen war noch Cure und Smashing Pumpkins, aber mit einer nicht wirklich glücklichen Songauswahl und einer ebenso unglücklichen Disserei, dazu gleich.

Um Reynolds nicht unrecht zu tun: dass jeder wohl andere 52 Songs aussuchen würde, ist klar. Dass man nicht mit allen Songs einverstanden ist und einem andere fehlen, geschenkt. Reynolds hat auch quer durch die Stilrichtungen und bis zurück in die 60er Songs ausgewählt, und ich gebe zu, schätzungsweise die Hälfte der Songs nicht zu kennen. Was ich ihm bisher vorwerfe, ist subjektive Befindlicherei meinerseits, da kann er nichts für.

Daher zuerst um Positiven. Reynolds schreibt flott und kenntnisreich, da werden Coverversionen, ähnliche Stücke, biografische Details und Hintergründe ausgepackt, ohne dass es irgendwann wie Fachinfowichserei rüberkommt, sondern eigentlich immer interessant ist – so gings mir jedenfalls, ohne, wie gesagt, alle Songs überhaupt zu kennen. Er disst und beschimpft bilderreich und erfreulich aggressiv, wobei mir da manchmal die sehr sichtbare Übersetzung aus dem Englischen ein wenig sauer aufstößt und manches einfach auch ein wenig überzogen tourettiert rüberkommt. Wenn Reynolds aber erklärt, warum man als Songheld eines Bruce-Springsteen-Hits einfach keine Chance und keine Zukunft hat und niemals eine haben wird, ist das prima, wenn er Phil Collins für das gräßliche „In the Air tonight“ zurecht in Grund und Boden verdammt, kann man ihm allenfalls vorwerfen, viel zu sagen über ein nichtssagendes, schlechtes Stück Pop. Sonst nichts.

Wenn dann der doch recht ex cathedra verdammende Reynolds seine Rezension zu „Brick“ von „Ben Folds Five“ auf einer völlig falschen Erstinterpretation aufbaute, darauf hingewiesen wurde und sich nicht zu schade dafür ist, alle Fehler stehenzulassen und nur zu kennzeichnen, wo und warum er falsch lag: sowas ist mir sehr sympathisch, Hut ab.

Die Anlässe, warum ein Song auf Reynolds‘ Liste gelandet ist, sind vielfältig. Meist gehts natürlich um den Text, und oft hat er an sich recht. Besonders, wenns dann noch gepaart mit unsäglicher Pathetik kommt oder mit dem von Reynolds gehassten „Hirnerschütternden Tonartwechsel“, abgekürzt HTW. Oftmals beklagt beschimpft er aber nicht unbedingt deprimierende, sondern einfach nur schlechte Songs. „Lucky Man“ von ELP ist in meinen Augen nicht wirklich deprimierend, nur etwas arg vorhersehbar, dick aufgetragen und, wenn man den verschwurbelten 70er-Rockpathos nicht mag, einfach grässlich. Es ist *nicht* *deprimierend*. So weit so gut, soweit meine persönliche Meinung, nur habe ich den Eindruck, dass Reynolds den Song eben auch nicht „deprimierend“ findet, sondern halt auf die eine oder andere Weise scheiße.

Und das passiert oft. Vor allem zu den Anlässen, wo Reynolds Band/Interpret an sich gerne mag und sich offenbar vor allem fragt, warum dieser Song (The Verve Pipe, Freshmen). Oder wenn man das Gefühl hat, er hasst jemanden und braucht nun einen Song zum niedermachen (Pink Floyd, Comfortably Numb).

In seiner Kritik zu „Hurt“ von Nine Inch Nails preist er die Coverversion von Cash. Zurecht, die ist trentlich. Dann sagt er, die Version von Cash sei traurig, die von Reznor deprimierend. Auch soweit mag ichs unterschreiben. Nur aber hat man mit der Zeit bei Reynolds das Gefühl, „deprimierend“ ist bei ihm ein Song aus völlig willkürlichen Gründen – mal ist ihm der Text zu weinerlich, mal das Thema zu songuntauglich, manchmal ist aber einfach nur der Interpret ein Idiot oder verdient der Sänger zuviel Geld. Das Ergebnis: ein Song, den Reynolds deprimierend findet. Womit sein Urteil eben recht willkürlich wird. Im genannten Fall: er mag halt Cash, und Nine Inch Nails nicht.

Wie schon gesagt, anderes Beispiel: dass Reynolds das gigantische „I want you to scrape me from the walls and go crazy like you made me“ von Alice in Chains‘ „Dirt“ nicht bringt, aber den Grunge durch ein, nun, etwas depressives, aber nicht unbedingt alles toppendes Pumpkins-Stück repräsentiert sieht, dann frag ich mich eben, gings ihm um nen deprimierenden Grungesong oder konnte er bloss Billy Corgan nicht leiden? Ich tippe auf letzteres.

Wenn einen das nicht stört – viel Spass beim Lesen.

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