Ich verehre Netzpolitik ein wenig und hab ihnen auch einen Dauerauftrag eingerichtet, wenn ich mich jetzt über Vincent Försts Kolumne „Die neue Einsamkeit“ zu Messeeindrücken von IFA und Venus dezent echauffiere, geschieht das aus einer Perspektive der allgemeinen Wertschätzung (Netzpolitik) als auch der spezifischen (Vincent), denn die Beobachtungen des letzteren scheinen mir durchaus wert, etwas länglicher zu schreiben. That said.
Vincent, in a Nutshell: Sowohl IFA (Elektronik/Unterhaltung) als auch Venus (ErotikPorn) sind Messen, die je auf ihre Art Leute zusammenbringen sollen. Dank KI, Digitalisierung und Selbstoptimierung werden sie indessen Leitmessen der Vereinsamung. Von den bedeutsamen Aspekten des Tuns (hier via Thermomix, der per KI das Kochen entfremdet, dort durch die gepuderte und beheizte Realdoll, die statt einer echten Partnerin Selfies auf die Arbeit schickt) wird man abgeschnitten, anstatt dass der technische Fortschritt hier Zugänge schafft, erleichtert, whatever.
Und nun ist das ein so schönes und stimmiges Bild – ich geb gerne zu, daran wär ich auch nicht wortlos vorbeigegangen, hätte ich die beiden Events besucht. Aber so schade es ist, meiner Ansicht nach fällt das ziemlich in sich zusammen. Ich hoffe indessen, auf eine durchaus bereichernde und horizonterweiternde Weise. Also.
Es klingt trivial, scheint mir aber vorweg ein zentraler Punkt:
Eine Erotikmesse taugt nicht zur Konstruktion von Gesellschaftsdiagnosen.

Gott spielen. Vereinsamungssymbolik auf der SEX NOW
Es macht zugegeben aber Spaß und man will direkt mitkonstruieren. Gehen wir also zehn Jahre zurück, 2015 gabs gleich zwei Awards für Mystim, bester Hersteller und beste E-Stim-Line. Beide Kategorien verschwanden in der folgenden Dekade, und nun frage ich mich, was sagt es über unsere Gesellschaft aus, dass Elektrosex nicht mehr gefragt ist? Innovativstes Toy 2015 war der Topco Sales Twerking Butt, schon damals konnte man den prämierten Plastehintern auf körperwarm vorheizen. Nochmal fünf Jahre zurück zur Venus 2010: es erschreckt mich geradezu, wie uninteraktiv die Awards 2010 waren, extremst filmlastig, zwei, hihi, „Magazine“ und durch die Bank halt „zu konsumierendes“. 2025 hingegen: Preise für die „Erotik-Influencerin“ sowie die „Erotik Influencer Agentur“ des Jahres, kommunikative Formate wie Onlyfans und Chaturbate weitere Gewinner usw.
Kurz: in zehn, fünfzehn Jahren wurden wir offenbar von einsamen Wichsern, die sich gelangweilt vor dem Bildschirm Elektroschocks verabreichen, zu kommunikativen, sexpositiven Akteuren, die Erotiktipps von echten Menschen anhören. Die sich in ihren Cam-Communities untereinander austauschen, statt einmal mehr die Ratgeberseiten der verklebten Magazine durchzublättern. Selbst die hartgesottensten Forever-Alone-Guys gingen vom beheizten Hintern zum beheizten Ganzkörpermodell über und sind so zumindest vorbereitet, wenn sie je irgendwann doch mal mit mehr als einem Arsch konfrontiert wären.
Kein Zweifel: Es geht voran!
Ernsthaft: Pornmessen am erotischen Subtext, an, ich zitiere, „verborgener Sinnlichkeit“ zu messen, das kann man durchaus bringen, aber da kann ich auch einen Techmilliardär an seinem Nährwert messen, klar, geht, wär auch irgendwie in Ordnung, aber leider seh ich nicht, dass sich der Maßstab in breiten gesellschaftlichen Schichten durchsetzt. Es geht um Porn, es geht um Sex, und das eine ist Fantasieerfüllung in Bezug auf das andere.
Tatsächlich lese ich aber ein paar spannende Punkte raus, und auf die Gefahr hin, selbst nun auch viel zu viel in Triviales reinzuinterpretieren: Vincents Raunen von den „wilden Geschichten“ auf der Venus, dem Abgehen in den Separees: kann es sein, dass man auch als reportender Messebesucher durchaus merkt, dass man selber nur an den Werbetafeln steht und das Leben woanders stattfindet? Vielleicht gar „wilder“, als man es sich trotz allenthalben verfügbaren Vorlagen grade so denken mag? Was macht genau diese Gedanken so spannend, wodurch werden die getriggert?
Ich neige ja zu den Thesen, dass a) Pornografie hilft, die eigenen Wünsche/Fantasien zu entdecken und insbesondere zu kommunizieren. Es liegt in der Natur der Sache, dass die anschließende Realität mit dem Fantasiesetting nur bedingt zu tun hat, das eine ist Realität und das andere Fantasie, its as easy as that, und mein Fokus hier liegt auf dem Teilsatz „zu kommunizieren“. Und dass sie so b) direkt oder indirekt damit das Leben der Menschen bereichert.
Wenn es also das Ansichtigwerden einer beheizten Realdoll mit KI-Anschluss und Schnittstelle zur Heimautomatisierung auf einer Pornmesse braucht, damit ich draufkomme, dass mich eine eindeutige Bildnachricht zur Arbeit wuschig auf den Abend macht? So be it. Das ist eine Aufforderung zu besserer Kommunikation und eine bessere Existenzberechtigung für gepuderte Sexpuppen als viele andere. Ihr gesellschaftlicher Impact aufs allgemeine Sexleben war, ist und bleibt indessen exakt null, lasst euch da von keinem Messehostier (was ist eigentlich männlich für Messehostess?) was anderes einreden.
Um zum Schluss einen sehr versöhnlichen Bogen zu schlagen: Ich bin in Bezug auf die IFA durchaus bei Vincent. Dass da ein besorgniserregender Trend (einmal mehr wie alles Beschissene heute von den Valley-Techbros und ihrer KI-Blase getrieben) hin zur erwünschten Vereinzelung der Menschen gepusht wird, würde ich unterschreiben. Warum seh ich ein Problem, wo es „nur“ um Gadgets für Soloselbständige und Selbstoptimierung in diversen Lebensbereichen geht, und keines beim handfesten Wegrationalisieren der Sexualpartner*innen?
Ganz einfach: bei der IFA gehts um Normalitäten und bei der Venus um Fantasien. Witzigerweise fände ich eine Normalisierung meinetwegen von VR-Sex durchaus spannend, interessant, whatever, aber ich ahne, es bleibt wahlweise Fantasie oder teure/randständige/abgefahrene Krücke oder ein Fetisch, wies halt viele gibt. Die Selbstoptimierung ist hingegen keine Fantasie, sondern politisch geforderte Normalität. Selbstausbeutende Influencer mit fragwürdig/verzweifelten Monetarisierungsstrategien sind keine Fantasie, sondern Medienalltag und Normalität. Allgegenwärtiges Quatschenmüssen mit KI-Bots ist keine Fantasie, sondern allgegenwärtige bis zwangsverordnete Normalität.
Auf der IFA wird Normalität erzeugt, die Venus bietet Beihilfe zu eigenen Fantasien. Das eine ist gefährlich, das andere macht Laune. Wenn man partout nach Gemeinsamkeiten suchen will, lassen sich bessere oder wie nebenan geschehen schlechtere finden. Spannender und beunruhigender find ich die Unterschiede.


