Die Zunge Europas: Strunks Ausweitung der Kampfzone

Mir wurde bei Lektüre des kürzlich empfohlengekriegten und anschließend sofort geshoppten und gelesenen „Die Zunge Europas“ von Heinz Strunk schlagartig klar, warum er bei der letzten Rezi of Death gegen Schamoni reüssieren konnte. Ich hab ihn schlicht mit dem falschen Autoren verglichen.

Nebenan auf Amazon ergehen sie sich über Wortwitz, Bissigkeit, gnadenloser Bestandsaufnahme, gesunkener Entsaftungsquote im Speziellen und der Vergleichbarkeit von der Zunge mit „Fleisch ist mein Gemüse“ im Allgemeinen, und ich frag mich, ob ich der einzige bin, der das Buch für einen durch den Strunkwolf gedrehten Houellebecq hält. Die Zunge Europas ist eine große Ausweitung der Kampfzone in lustig, in der gnadenlos das triste Leben zerlegt wird, Zukunfts-, Entwicklungs- und Glückschancen permanent und ausnahmslos an Alter, Fett, Debilität, Dummheit und Tod zerbrochen werden. Die Menschheit ist in Fickbarkeits- und Chancenkategorien eingeteilt, in der die Coolen mit den Coolen, die Looser mit den Loosern und die Fetten, Dummen und Hässlichen mit, ok, Prinzip erklärt. Alle hängen sie in ihren Körpern wie in Säcken oder meinetwegen in schicken, bunten, schlanken Sportbeuteln, die aber eben auch nach Herrenumkleide oder Charlotte Roche miefen. Überhaupt ist „körperlich“ irgendwie eines der zutreffendsten Adjektive zum Buch, in all seinen negativen Sinntiefen. Und am Schluss kriegen sie alle ihr Fett ab und sinken am Ende eines sinnlosen Lebens ins Grab.

Erdmann hält sich mit Routine und einem gelegentlich aufschimmernden Rest Hoffnung über die komplette Distanz am Leben und in weitgehender geistiger Gesundheit. Das Lebensziel bleibt, wenn auch vage, erkennbar (und besteht nicht unbedingt in einer „Erschießungsphantasie in Polen“, ein nebenbei erwähnt wunderbarer Liedtext im Buch). Selbstverstümmelung, Psychiatrie und das Animieren Dritter dazu, doch einfach mal ein paar hübsche junge coole Menschen umzubringen, findet nicht statt, allein ich frag mich, warum?

Ich denke, es liegt daran, dass sich Strunks Erdmann einen Rest psychotisch angehauchten Witz erhalten hat, und der rettet ihn ein kleines Stück weit bzw. abhängig davon, was man unter „Rettung“ verstehen will, während bei Houellebecq die Akteure dann doch meist gnadenlos rational vorgehen und sich anstatt zumindest krankerem Humor allenfalls Zynismus gönnen. Nach Selbstmord ist es einem halt nicht, wenn man sich grade ausführlich ausgemalt hat, wie man als übergewichtiges Hochzeitspaar über der Bühne der achtzigjährigen Stones zum Jawort abgelassen wird und aufgrund von galoppierender Materialermüdung Keith Richards und Mick Jagger mit seinen massigen Körpern erschlägt, und das alles live auf RTL. Nein, da wartet man lieber ab, bis man nach dem Elternbesuch überraschend nicht mehr aus der Seniorensiedlung gelassen wird, um dort irgendwann nach viel Nichts der einen Sorte in viel Nichts der anderen Sorte überzuwechseln.

Seinem Erdmann mag ich da zurufen, dass ihn seine gelegentlich keimenden Hoffnungen trügen. Wie er selber sagt, es kommt nichts mehr. Und er hat recht. Dem in der Kampfzone ist das klar, Erdmann nicht immer. Und das ist schon alles.

Strunk selber scheint es besser zu gehen, als es die biographischen Anhauchungen seiner Bücher erwarten lassen und ich gönn es ihm von Herzen. Seinem Helden nimmt man das nicht ab, im Unterschied zum Protagonisten der Kampfzone wird Erdmann wohl nicht in Selbstmord oder Psychiatrie enden, aber das ist ein rein gradueller Unterschied. Die Malaise ist dieselbe und das Beiwerk extrem ähnlich. Ich könnt das sicher noch an Textstellen belegen, aber ich vermeide es im Spätherbst bewusst, einen Houellebecq in die Hand zu nehmen.

Falls es nicht rauskommt: ich find das Buch großartig.

Kategorie: ich gegen die wirklichkeit. permalink.

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