#sosollweb gewesen sein?

Die Herzen! Vergiss die Scheiß Herzen nicht!

Die Herzen! Vergiss die Scheiß Herzen nicht!

Ich bitte zu unterschied, auch wenn ich da einiges nickend gutfinden mag. Wegen irgendwas rauschte Annette Schwindts sosollweb-Text an mir vorbei, Tenor: Netz war früher freundlich, gehaltvoll und unkommerziell, persönliche Bindungen wurden geschaffen und ein ordentlicher Diskurs geführt, und das alles ganz freiwillig, weil wir tolle, von der bösen Kommerzialisierung und den Trollfarmen unverdorbene Netisens (man sagte doch Netisens?) waren. und nun bin ich Freund eines gehaltvollen Gedankenaustauschs wie alle anderen sicherlich auch, begrüße höflichen Umgang in vernünftigen Grenzen und bin im übrigen der Ansicht, dass seit weißgottwann jedes von mir gebloggte Wort das Internet besser macht, weil praktisch alles, was ich schreibe, qualitativ und intellektuell weit über dem Netzdurchschnitt liegt.

Sagen wir 'romantisches'.

Sagen wir ‚romantisches‘.

Nur steht da halt auch unter „Damals…“, wörtlich, man hätte „eine selbstverständliche Netiquette praktiziert“, man ging nicht in die „Provokationsfallen“, sondern schenkte Aufmerksamkeit nur jenen, „…die man ehrlich gut fand und deren Beiträge man wirklich weiterempfehlen wollte“, undsoweiterundsoweiter. Und nochmal, das klingt alles ganz fein und scheint mir ein erstrebenswertes Ideal, auf das sich hinzuarbeiten lohnt.

Nur: das ist ein Ziel, das in der Zukunft liegt. Es existierte in der Vergangenheit nicht. Nie. Es ist eine romantische Verklärung, die man leider nicht so exzessiv dekonstruieren kann, wie man gerne wöllte, denn das Netz vergisst doch und wenn nicht, dann bin ich halt zu faul, für eine abendliche Verklärungsdekonstruktion ausführlich die Wayback Machine anzuwerfen.

Dass es diese schönen Aspekte gab, will ich absolut nicht in Abrede stellen. Damals wie heute war es indessen eben nicht die Regel, dass man sich gegenseitig spontan Fickschaf-Domains schenkte oder ein Battle, wennschon, dennschon nur im Netzradio stattfand.

Blutblogger. Ich war dabei.

Blutblogger. Ich war dabei.

Die deutsche „Bloggerszene“ wurde aus Gründen (guten!) Klein-Bloggersdorf genannt, und nachdem man sich überlegte, dass man ja ein wenig kritische Netzöffentlichkeit sein könnte, gings flugs los mit der Werbungsdiskussion, dem Krieg zwischen Blutbloggern und Blogfundis, es wurde gewissenhaft schubladisiert, dann kam Callboy Torsten und der Justizbus, Sixtus kriegte skandalöserweise einen Grimmepreis, die allgemeine Abmahnerei lief parallel über alle Kanäle, ich hatte meinen Anteil daran, dass der Bundestagspräsident ein Impressum hat, zwischenrein kamen irgendwelche Idioten und behaupteten, politisch gebloggt werde in .de eh nicht, Dostojewski fickte indessen besser als Tolstoi, alle hassten Don Alphonso, dann wurde die Piratenpartei gegründet und ab dann war eh alles scheiße.

Bedeutsame Diskurse damals.

Bedeutsame Diskurse damals.

Kurz: Ja, da gabs viele sehr schöne und feine Sachen. Und einiges andere. Einiges im Sinne von viel, scheiße und kleinkariert.

Aber es geht noch weiter. Die ganze Blogger/Twitter/Web2.0-Blase (haha, Web 2.0!). Die war genau das. Eine Blase. Eine angenehme Blase mit den coolen Jungs und Mädels, klar. Aber der Rest der Welt fand woanders statt. Während dieser Zeit hing der Großteil der Netzbevölkerung in Foren ab (reminds me, vor kurzem rettete ich vBulletin aus der deWiki-Löschhölle, irrelevant seien die gewesen, waha!, aber the natives remember!) Aber ernsthaft: Klein-Bloggersdorf war klein, Twitter war klein, groß war was anderes.

Big Boards, 2009

Big Boards, 2009

Ganz zu schweigen von den FB-Vorbeben. WKW, Knuddels, Myspace anyone? Geocities, haha. Wobei ernsthaft, der Myspace-Umgangston war positiv interessant. Ab davon hatten wir damals noch rotten.com und ogrish, ich weiß nicht, was es da zu romantisieren gibt. Parsimony-Foren, Himmel. Wenn ichs nicht besser wüsste, würde ich behaupten, dort wurde das Trollen erfunden. Und wer denkt, mit der aktuellen Entwicklung habe das Netz seinen Sündenfall erlebt, oder das meinetwegen nur suggeriert… der war nicht bereits zu Facebookzeiten oder mit rotten.com selig gekommen. Dieser Sündenfall ist schon älter, und ich schrieb in einer fucking Magisterarbeit in den frühen Nullerjahren selig drüber. Hint: das „Netz“ konnte damals nur 7Bit-ASCII.

Secondlife. Man konnte Genitalien kaufen.

Secondlife. Man konnte Genitalien kaufen.

So, jetzt hab ich mich lang ereifert, und das alles angesichts einer gut gemeinten und sicherlich begrüßenswerten bis notwendigen Initiative. Warum das alles? ich bin für den ganzen Kram, für bedeutungsvolle Kontakte, für gepflegten Diskurs und wasweißich nochwas.

Ich glaube bloß nicht, dass man sich einen Gefallen tut, wenn man zu diesem Behuf eine falsch hinromantisierte, nichtexistente Vergangenheit herhalluziniert, denn das suggeriert, dass das alles schon mal möglich war. Es wars nicht, und man sollte nicht darauf hoffen, dass es „wieder so wird“, man wird sowas schon von Grund auf neu erschaffen müssen. Dass das Fediverse und Small Web-Strukturen dazu geeignet sind: aber klar doch! Dass man dafür nur ne Latte intelligenter Leute, passende Plattformen und guten Willen braucht: nein, da waren wir schon, die schaffen es trotzdem, sich die Köpfe einzuschlagen und sich über beliebigen Scheiß in Zwistigkeiten zu verheddern, bis einer heulte.

Immerhin, ich muss zugeben, die aktuelle „KI-Bilder in Blogs unter besonderer Berücksichtigung der vom Studio Ghibli vertretenen Werte“-Debatte hat allerliebste 2009-Vibes. Es ist fast ein bisschen wie damals, als Sascha Lobo Werbung für Vodafone machte. Die großen Fragen der jeweiligen Zeit eben.

Nur ohne den nebenan erwähnten Johannes. Du fehlst.

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4 Responses to #sosollweb gewesen sein?

  1. Danke für Deinen Beitrag, ich hoffe nur, wir haben Deinen Blutdruck nicht zu sehr strapaziert. Mag sein, dass Du andere Erfahrungen gemacht hast und ich sage nicht, dass alles rosa war. Aber meine Erfahrung war nun mal so, dass der Umgangston ein besserer war. Vielleicht sollte ich das deutlicher hervorheben? Jedenfalls gut zu wissen, dass wir hinsichtlich der Zukunftswünsche einer Meinung sind.

    1. Avatar-Foto Korrupt sagt:

      Moin, Annette, alles gut, und wenns rüberkommt, als würde ich mich aufregen, dem ist mitnichten so. Wie abschließend geschrieben: ich halte es nur für schwierig, da ein „das gabs mal“ zu spielen, denn das lässt das alles leichter erscheinen als es eigentlich ist. Ich wil da nur Frustrationen vermeiden.
      Je länger ich drüber nachdenke, glaube ich auch nicht mal, dass das Problem „der Umgangston“ ist. An sich steht und fällt alles mit Automatisierung und Algorithmisierung von Interaktionen. Lies mal bei der zweiten Hälfte der hentai/Porngames-Kiste letztens, da schweife ich ab zu Kohlchan/Facebook. Ich weiß nicht, inwieweit dir 4chan, Krautchan, Imageboards was sagen, aber an sich die toxischsten Umgebungen im Netz überhaupt seit vielen langen Jahren, und ich beabsichtige auf dem Hügel zu sterben, dasss dort nach wie vor bedeutsamere, menschlichere und echtere Kommunikation stattfindet als auf Facebook oder X. Die ist unterirdisch, misantrophisch und wie gesagt extremtoxisch, aber ich bleib dabei: echter als der Großteil heutiger „sozialer“ Medien. Den generellen Streichelzoo brauchen wir gar nicht überall. Ein simples „Hier sind Menschen und machen Menschendinge“ wäre bereits ein bedeutsamer Fortschritt.

  2. Johnny sagt:

    > Aber es geht noch weiter. Die ganze Blogger/Twitter/Web2.0-Blase (haha, Web 2.0!). Die war genau das. Eine Blase. Eine angenehme Blase mit den coolen Jungs und Mädels, klar. Aber der Rest der Welt fand woanders statt. Während dieser Zeit hing der Großteil der Netzbevölkerung in Foren ab

    Auf Twitter schrieben die Leute irgendwelche Bloß-niemandem-wehtuh-Postings von wegen „Mein Hund guckt so komisch. Ich sollte vielleicht doch mal mit ihm Gassi gehen.“ und im IRC haben sich Leute gegen Husten Dulcolax empfohlen und sich darüber kaputtgelacht, wenn der Kumpel aus dem Counterstrike-Clan dann ernsthaft zuviel Angst davor hatte zu husten weil es sonst schon wieder in seinem Darm rumpelt.

    Vor Musk haben sich alle an MeToo und dem Aufkreisch gegen den Brüderle von der FDP beteiligt, aber täuschen heute vor, dass erst Musk Twitter toxisch gemacht hätte.

    Ich bin ebenfalls mit Foren sozialisiert und finde es daher immer etwas seltsam, wenn bei Aktionen wie „sosollweb“ oder „unplugtrump“ ausgerechnet Mastodon empfohlen wird.

    Wenn man sich von Musk distanzieren will, sollte man nicht Twitters UI nachäffen. (Und eine Zeichenbegrenzung von 500 ist auf Dauer unnötig anstrengend, weshalb ich lieber zu anderer Fedi-Software gewechselt bin.

    1. Avatar-Foto Korrupt sagt:

      Brüderle bashen macht die Welt besser und MeToo waer so gut, richtig und wichtig wie nur was, aber that said: ich glaube nicht, dass die Art der Plattform iSv. Zeichenbegrenzungen etc. wirklich eine Rolle spielt. Spannender finde ich tatsächlich den Wechsel von Foren zu Social – in ersteren ist der „Druck, es miteinander aushalten zu müssen“ größer und dadurch auch die Regulierung idR. strenger, siehe Boardregeln usw. In Social Media ist das deutlich stärker vereinzelt – block dir deine Timeline sauber usw. Am massivsten scheint mir der Effekt tatsächlich in der Wikipedia sichtbar, dort wurde extrem viel sukzessive in Regelform institutionalisiert, was meist negativ als Bürokratisierung und Undurchschaubarkeit geframed wird, tatsächlich scheint es mir in erster Linie eine Strategie zum Vermeiden so vieler Konfliktaustragungen wie möglich (man muss nichts (mehr nochmal) ausdiskutieren, wenns bereits eine Regel gibt.)

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