Marx, Piraten und das emanzipatorische Potential von Technik

Um mit Schlussätzen vom letzten piratenbezogenen Blogpost zu beginnen: Der Marx und die Piraten ist ein Fass, das ich ohne Jonnys konkrete Anmerkung gar nicht aufgemacht hätte. Vorwarnung, ich hab den Verdacht, dass man das alles schon irgendwie weiss. (Nachtrag: nun, vielleicht doch nicht, mir scheint nun einiges gegen Ende dieses Textes nachträglich neu und spannend, nachdems dann mal ausformuliert dastand). Sorry, das hier wird jetzt wirklich a) lang und b) vermutlich irgendwo auch etwas glorifizierend, aber das ist halt Diskurslogik: man muss Thesen und Theorien stark interpretieren und auslegen, damit man sich an ihnen abarbeiten kann.

Ich schätze Marx eigentlich insbesondere als kompetenten Analysten der kapitalistischen Ökonomie, der er gestern wie heute unbestritten ist. Ich begreife mich selber politisch durchaus als weit links draußen, aber muss gestehen, so das „piratische Gedankengut“ mal konkret auf Marx abgeklopft zu haben, das hatte ich bisher nie ernsthaft angefangen. Anfangs, weil es schlicht ein wenig arg vulgärmarxistisch gewesen wäre, zu frühen Piratenparteizeiten mit noch sehr konkretem Piratebay-Hintergrund groß über Aneignung von Produktionsmitteln oder Aufhebung der Mehrwertakkumulation zu reden. Heute… ich denke, man könnte es probieren, würde aber notgedrungen der Komplexität nicht mehr gerecht. Besser vielleicht: ich würde mit meinem Marx-Vorwissen und analytischen Fähigkeiten mit dem Versuch einer marxistisch orientierten Analyse der Wirklichkeit selbiger in ihrer Komplexität nicht gerecht werden können.

Prinzipiell halte ich das aber durchaus für machbar, wahrscheinlich steckt sogar Erkenntnisgewinn drin, vermutlich wäre das Trollrauschen dazu recht hoch, weil da eben einige Reizthemen in Reizkontexte eingeordnet werden. Aber natürlich ist in den Zeiten einer „Informationsgesellschaft“ – oder besser: einer Gesellschaft, in der der Wert von Information im Vergleich zum Wert materieller, physischer Ressourcen permanent steigt – die Vergemeinschaftung oder auch nur die simple Verfügbarkeit von Information (sei es durch entsprechende Lizenzen, Gemeinfreiheit oder die schlichte Erreichbarkeit im Netz) eine Form der Aneigung der Produktionsmittel. So weit, so trivial. Denn parallel dazu sehen wir die Errichtung neuer Eigentums- und Verwertungsregimes, die eben diese Aneignung verhindern. Spannenderweise stellt sich eine gewisse Piratenpartei insbesondere gegen diese neuen Regimes.

Das allein macht keinen Piraten zu einem Marxisten oder zum Vorreiter einer neuen sozialistischen Avantgarde. Faktisch werden hier indessen genuin marxistische Ziele aufgenommen bzw. als Misstand definiert, was auch die marxistische Analyse eben als Missstand begreift. Die Piraten stellen sich dabei insbesondere auf der Ebene immaterieller Güter gegen eine künstliche Verknappung und damit eine Unterwerfung unter die kapitalistische Verwertungslogik, das Prinzip wird aber auch weiter gedacht in Bezug auf weitere Gesellschaftsbereiche, in denen Immaterielles mehr oder weniger künstlich verknappt und zur handelbaren Ware wird – besonders krass beispielsweise der Zugang zu Bildung und bildungsinduzierten Aufstiegschancen. Ein Konzept wie das BGE ist (noch) umstritten, aber die Abschaffung einer als (imo zurecht) als künstlich empfundenen Knappheit selbst bei den grundlegenden Lebensbedürfnissen ist klares Grundprinzip. Schaut man sich die „utopischer“ orientierten Ecken an (ich denke hier insbesondere an Oekonux, die nun nicht „Piraten“ sind, wo ich aber sehr große Schnittmengen erkennen mag), beschäftigt man sich auch hier mit Möglichkeiten und Folgen einer Abschaffung der Knappheit auch und gerade von materiellen Gütern. Spätestens hier weht eine steife Brise historischer Materialismus über den Wassern, denn die Grundannahme solcher Überlegungen ist, dass die Gesellschaft insbesondere durch die Verfügbarkeit und Knappheit materieller Güter (vulgo: Verteilung) bestimmt und strukturiert wird.

An der Stelle ein Einschub: der Marx ist in meinen Augen damit durchaus notwendig, aber nicht unbedingt hinreichend, um eine einigermassen stringente Analyse der Rolle und der Ziele von Piraten in der Gesellschaft zu leisten. Wer mich kennt, wird wenig überrascht sein, wenn ich zumindest noch Weber, Bourdieu und Foucault hinterherwerfen würde. Ich sehe auf der einen Seite die (gelegentlich fast schon naiv beschworenen) emanzipatorischen Potentiale oder gar „inhärent zugeschriebenen“ Eigenschaften des Internet (JP Barlow, anyone?), auf der anderen Seite ist die schöne neue Netzwelt alles andere als ein Idealkommuniamus, dafür braucht man nicht viel rumsurfen. An die Stelle bzw. neben das klassisch marxistische Kapital und Produktionsmittel treten kulturelles und soziales Kapital, Distinktionsmechanismen, Kontrolle von Teilhabe und Ausgrenzung usw., wie gesagt, denkt nach Belieben am Weber, Foucault etc. weiter, mir geht es auch überhaupt nicht um ein piratisches Aufheben aller Ungleichheiten und/oder Machtstrukturen, sondern insbesondere der zentralen nach der marxschen Analyse. In der spielt nun auch die Technik eine Rolle als Naturaneignung und -beherrschung, und über diese und eine neue Rolle von Technik in diesem Kontext muss ich mich jetzt leider noch etwas detaillierter auslassen.

Sebastian schreibt ja eine Magisterarbeit zum Thema, im Einleitungskapitel werden schon einige der Grundannahmen geworfen, über denen ein dezenter Marxdunst schwebt: Technisch induzierte Abschaffung ökonomisch verwertbarer Knappheiten, Kollektivierung bzw. allgemeine Verfügbarkeit von technischen und gesellschaftlichen „Produktionsmitteln“, die bislang einer ökonomisierten Knappheit unterworfen waren, Aufhebung von Kontroll- und Verknappungsregimes verschiedener Art. Man muss diese Befreiungen analysieren, will man den Einfluss und die Wirkmacht des Internet in der heutigen Gesellschaft zum einen verstehen und zum anderen auch (emanzipatorisch) nutzen.

Das Problem ist, dass dem Netz dieser emanzipatorische Charakter alles andere als „inhärent innewohnt“. Es ist immer wieder erstaunlich, wie überzeugt „dem Netz“ und einer ihm zugeschriebenen inhärenten Logik nicht nur Eigenschaften, sondern auch ganz konkrete Errungenschaften zugeschrieben werden. Ich machte den Fehler auf der Ebene drüber: Durchaus entlang an der marxistischen Kritik machte ich mich in einer inzwischen etwas angestaubten Magisterarbeit zum Thema statt der Lobpreisung „netzinhärenter“ Logiken des idealistischen Verklärens von Wissenschafts- und Technikeliten schuldig: so existiere zwar laut der drastischeren marxistischen Kritik

„…kein Unterschied der Interessenslage der ‚freien Forschung‘ einerseits und der Herrschaftseliten andererseits … Die Eigengesetzmäßigkeit des technischen Fortschritts, der sich stur an Kriterien der Machbarkeit halte, lege eine weitgehende Gleichförmigkeit der jeweiligen Handlungslogiken nahe. So sei zu beobachten,

‚… dass die Interessen der wissenschaftlich-technischen Eliten weitgehend mit denen der kapitalistischen Wirtschaft übereinstimmen, dass es eine strukturelle Verwandtschaft zwischen der naturwissenschaftlichen Technik und der Logik des Kapitals gibt und dass sich, zur vollen Realisierung ihrer jeweils eigenen Entwicklungslogik Kapital und naturwissenschaftliche Technik wechselseitig voraussetzen.‘

…und was schreibt der frühe Korrupt 2001 drunter?

Diese Argumentation kann jedoch als unzutreffend verworfen werden.“

Heute muss ich ein wenig verlegen lächeln, wenn ich das lese. Tatsächlich denke ich, dass hier eine allgemein gültige Entropie dahingehend am Wirken ist, dass eben kreatives Neuschaffen schwieriger ist als das Adaptieren bestehender Strukturen, destruktive Wirkungen leichter (und „automatischer“) entstehen als konstruktive. Das simple „Anwenden“ von Technik macht trotz der inhärenten Logik von Technik als Universalwerkzeug zur Vereinfachung von Aufgaben, Verbesserung von Abläufen oder klassisch „Beherrschung der Natur“ gedacht, aus den Resultaten allenfalls optimierte Versionen bestehender Verhältnisse, die eben von Machtungleichgewicht, Ausbeutung, fehlender Folgenabschätzung etc. geprägt sind.

Technik und ihre Akteure sind dabei allenfalls wertfrei (im Fall von Digitask kann das auch getrost verworfen werden, ich bin mir recht sicher, dass die Akteure wussten, dass sie schlicht und ergreifend schlechte Dinge taten). Technik optimiert auch die Zahlungsabläufe im internationalen Bankenverkehr, und das tut sie natürlich ungeachtet der Resultate, sollten die nicht „technische“ Fehler im Sinn von konkreten Bugs sein. Die reine Neutralität gegenüber gesellschaftlichen Folgen führt zu diesem inhärenten „Handlangertum“, welches nicht hinreichende, aber notwendige Vorbedingung für entsprechend hochoptimierte Missstände ist. Unbenommen spielt Technik diese Rolle auch bei als „positiv“ wahrgenommenen Entwicklungen: auch die AKW-Alternativen sind „Technik“, auch die Rechner, mit denen eine Finanztransaktionssteuer berechnet werden müsste, sind Technik, nichtsdestotrotz gibt es keinen „natürlichen Drang“ der Technik zu diesen „gesellschaftsdienlicheren“ Alternativen und wird die Entwicklung der „Alternativtechnik“ immer durch die Beharrungskraft existierender Gesellschafts- und Machtstrukturen in einer zunächst unterlegenen Rolle sein.

Das nun als eine etwas verschwurbelte Annäherung zu diesem „emanzipatorischen“ Aspekt, den ich den Piraten zurechne. Eine solche „emanzipatorische“ Wahrnehmung und Nutzbarmachung von Technik ist mit Sicherheit kein Piratenmonopol, nichtsdestotrotz setzen sie es aktuell als einzige mit einer ernstzunehmenden Motivation um: Technik wird explizit als Mittel zur Demokratisierung und zur Aufhebung von Herrschaftsstrukturen gedacht und genutzt. Das passiert „von den Möglichkeiten her gedacht“, nicht als nachgeordneter Problemlöser. Ich versuche mich an einem Beispiel. Als sowas wie freie Wahlen in Mode kamen, musste ja auch die Infrastruktur geschaffen werden, um diese durchzuführen. Man hatte das Ziel, diese Wahlen abzuhalten, und nur die schrittweise Verbreitung selbiger hat vermutlich dafür gesorgt, dass niemand von Anfang an mit einem „haha, wie soll das denn funktionieren, wie soll Bauer x im Kuhdorf y verlässlich seine Stimme abgeben und warum überhaupt, die können ja nicht mal lesen dort“ überzeugend dargelegt hätte, dass das Prinzip freier, allgemeiner Wahlen Schwachsinn ist und man entsprechend gar nicht erst damit anfangen braucht.

Am Ende dieses doch stattgefundenen Prozesses stehen heute neben, hihi, Diebold-Wahlmaschinen auch große, komplexe Infrastrukturen, die von der bloßen dezentralen Stimmzetteleinsammlung und -auszählung hin zu so schönen Errungenschaften wie Unterrichtseinheiten im Sekundarstufenlehrplan und Wahlforschungsinstituten geführt haben. Man hätte es sich nicht träumen lassen, was mal draus wird, als die ersten Hinze und Kunze ihre Stimmzettel in einen großen Topf geschmissen haben.

Das genuin Neue (und inhärent marxistisch Orientierte) an der piratischen Herangehensweise scheint mir hier zu sein, dass die Technik eben nicht mehr (immer) vom Schwanz her aufgezäumt wird: man versucht, aus der „neutralen“ und damit inhärenten bestehende Strukturen stützenden Rolle der Technikgenese auszubrechen. Es geht auch über den Ansatz hinaus, spezifische gesellschaftliche Projekte durch den Einsatz von Technik zu ermöglichen, welche dadurch quasi als dem Ziel nachgeordneter Problemlöser agiert. Stattdessen denkt man eine wünschenswerte Gesellschaftsstruktur und entwickelt die dafür notwendigen Techniken.

Ich tu mich schwer mit dem „Greifbarmachen“ dieser Unterscheidung. Ich denke, das anschaulichste Beispiel ist die Gegenüberstellung der bereits erwähnten Diebold-Wahlmaschine mit LQFB. Die Diebold-Wahlmaschine ist ein Ergebnis „alten“, herrschaftsstützenden und tendeziell destruktivem Technikeinsatzes: ein gesellschaftliches Projekt (das Abhalten von Wahlen) soll irgendwie effizienter gestaltet werden, weswegen alte Technik durch „modernere“ Technik ersetzt wird, an der Systemlogik wird aber nichts geändert. Stattdessen nimmt man eine ganze Latte an Unwägbarkeiten, Unsicherheiten und nicht zuletzt entdemokratisierender Nebenfolgen der neuen Technik in Kauf (spannenderweise aus insbesondere ökonomisch begründeten Interessen heraus).

LQFB ist hingegen eine Lösung nicht für ein „eindimensionales“ Problem a la „Wie machen wir Wahlen billiger und damit besser zu kapitalistischen Verwertungsstrukturen kompatibel?“, sondern für die umfassendere Problemstellung „Wie können wir angesichts der technischen Möglichkeiten nicht nur das Konzept von Wahlen, sondern das übergeordnete Konzept von Mitbestimmung und Teilhabe neu und umfassender denken?“

Ähnliches ist auch auf soziologisch/politologisch weniger durchtränkten Feldern zu sehen: die Überlegung, wie ganze Gesellschaftsbereiche wie beispielsweise die Kunst und die Medien neu gedacht und strukturiert werden können, unter Gesichtspunkten einer Abschaffung von Knappheit und maximierter Teilhabe steht im nun lange Jahre schwelenden Sreit den Versuchen gegenüber, bestehende Strukturen irgendwie in neue Technik zu packen.

Kurz zum Schluss: den „Marx drüberkippen“ ist relativ einfach, geht es um eine Bewegung, die sich wie gesagt insbesondere gegen künstliche Verknappungen von (Immaterial-)Gütern wendet. Ihr emanzipatorisches Potential zu unterstellen ebenso, wenn die Instrumente der „Verknappungsbewahrung“ eben zwangsläufig restriktiver Natur sind und den Verwertungsinteressen spezifischer Gruppen dient. Als Alleinstellungsmerkmal empfinde ich aber durchaus die Wahrnehmung von Technik als, und jetzt steinigt mich für marxistische Kernbegrifflichkeit, revolutionäres Mittel, das eben im Wortsinn Gesellschaftsstrukturen revolutionieren kann: vom Papier-Stimmzettel zu Diebold ist es ein evolutionärer Prozess der technisch-ökonomischen Optimierung eines Wahlvorgangs, vom Stimmabgabeprinzip zu LQFB ein Bruch, der aber letztendlich (technikgestützte) drastisch erweiterte Partizipation schaffen kann.

Den Willen zu diesen Brüchen, das Engagement zur Entwicklung entsprechender Strukturen, Instrumenten und Techniken, den Wunsch nach der allgemeinen Teilhabe an dafür notwendigen Wissensressourcen, den sehe ich bei den Piraten und woanders kaum bis gar nicht. Und das macht sie, Kernbegrifflichkeit zwei nun, zu einer Avantgarde, der ich – bei aller Bescheidenheit – aus dargestellten Gründen und Zielen durchaus gerne und mit einem kleinen bisschen Stolz angehöre.

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