gulli:board-Nostalgie und ein Interview mit mir selber…

..klingt derbe nach Egogeficke, aber an sich ists eh nicht mit mir selber, weil ich damals ein völlig anderer Mensch war, und drüber hinaus denk ich jetzt im Vorfeld, könnte es ganz spannend sein, weil die Themen an sich ja vollkommen aktuell sind. Achtung, wird lang.

Anfang April 2000 schrob ich mein erstes Posting im gulli:board, und da das in einem nicht öffentlichen Forum geschah, haben es bisher allenfalls eine kleine Handvoll Leute zu Gesicht bekommen. Ich wollte seinerzeit ein Interview für meine Magisterarbeit zum Thema „Politischer Aktivismus im Internet“ machen, und unter anderem fragte ich bei gulli nach. Weder aus dem Mag-Thema noch aus dem Interview wurde was, aber ich landete auf nem gewissen Board, auf dem seinerzeit ein extra Forum fuer eben dieses Interview eingerichtet wurde und seitdem irgendwie mitgezerrt wurde. Und weil die Administration sich seitdem nie bequemte, die Fragen zu beantworte, mach ich das nu eben. So mit nem Korrupt von vor fast sieben Jahren plaudern hat auch was, btw. Der Kerl war nicht ganz dumm, aber Himmel, so macht man einfach keinen Interviewleitfaden. Also, frisch ans Werk. Kursiv sind die Fragen von damals, ich antworte in der normalen Schrifttype.

Hallo nochmal,

ok, ich poste einfach mal die ausfuehrliche Liste, die ich Gulli schon mal gemailt hab…

…und dazu nochmal, ich glaube kaum, dass das alles irgendwie „behandelt“ werden kann, aber ich hoff eben, dass dadurch ersichtlich wird, was genau so die Themen sind, die mich grade rumtreiben…

1. Ungleichheit im Internet

– Wodurch siehst du im Netz die soziale Ungleichheit der Menschen verschaerft?

– Was mir einfaellt: unterschiedliche Zugaenge, mangelnde Medienkompetenz (schichtab-haengig), einfachere Manipulierung der „unerfahrerenen“ Usern etc., ….
– ueberhaupt Vorspruenge durch Technik – z.B. was Hardware, Netzanbindung, aber auch Kryptografie, Abhoerpotentiale etc. angeht (auch im globalen Kontext mit Schaffung von Abhaengigkeiten und der unterschiedlichen Chancen unterschiedlicher Laender, ins Info-Zeitalter einzusteigen)…
– Neue Moeglichkeiten der Ausbeutung und Flexibilisierung von Arbeitskraft, das Ausspielen von Nationen gegeneinander.
– Der Fernseh-Effekt: Privilegierte haben was davon, die Masse wird verdummt.

An sich ne gültige Hypothese, aber qualitativer Unterschied zu anderen Medien ist, wie du schon selber bemerkst, nicht gegeben. Insofern unterscheidet sich das Netz von anderen technischen Errungenschaften und anderen Medien durchaus wenig. Die (freie) Presse ist natürlich ein Instrument der Emanzipation und der Aufklärung, dennoch nutzen die einen sie in diesem Sinn und die anderen lesen Gala und Bild. Die Analogie ist meiner Ansicht nach aufs Internet abzubilden.
Es amüsiert mich nebenbei, dass ich offenbar etwas optimistischer bin als du, obwohl du sieben Jahre jünger bist ;o) Ich neige mehr und mehr zur Ansicht, die Tragweite des Internet durchaus mit der des Buchdrucks gleichzusetzen – eine nun geöffnete Büchse der Pandora, die momentan noch nicht ihr volles Potential erreicht hat, aber auch Gutenberg hat erst nur Bibeln gedruckt. Die gesellschaftlichen Umbrüche, die die Literarisierung der Gesellschaft mit sich brachten, brauchten auch noch einige Zeit. Insofern – doch, ich bin grade ein wenig selbst drüber verwundert, aber mittlerweile glaube ich wieder mehr an das Netz als Medienrevolution und nicht nur als weiteres, hinzukommendes Medium. Entschuldige das kurze Fallenlassen der brechtschen Sendertheorie, aber ich denk, das ist der springende Punkt.

– Welche gesellschaftlichen Errungenschaften/Institutionen siehst du durch die Entwicklung des Net gefaehrdet? Wodurch?

Das ist einfach: Anonymität und Privatsphäre, konstruktionsbedingt, was das Netz angeht. Bisher hat man die Wahl: Anonymität oder potentielle Breitenwirkung, beides zusammen scheint (noch?) nicht zu funktionieren. Wenngleich da die Mem-Theorie imo interessant werden könnte – die „großen Netzthemen“ scheinen mir gelegentlich durchaus losgelöst von den konkreten Akteuren zu funktionieren.
Aufs Individuum bezogen, sind die Datenspuren, die immer umfassender zusammengeführt werden können, das Problem. Natürlich auch eine Stärke – bislang wird nur geheult, dass ja die Personalchefs inzwischen auch Namen googeln können. Ich denke, dass da aber auch das gegenteil Gültigkeit hat – dass eben die Spuren im Netz Menschen zu was besonderem, interessanten machen. Von mir stehen nach um die 13 Jahre Internet ja auch nicht überwiegend Saufbilder im Netz :o)

Um noch beim „negativen“ zu bleiben: dieser Wettbewerb um den kleinsten gemeinsamen Nenner beim Intellekt des Medienrezipienten. Das Internet macht natürlich auch die verbreitete Blödheit sehr gut sichtbar. DSDS scheint nicht wirklich den intellektuellen Anspruch noch das kulturschaffende Potential von $beliebige-Arte-Sendung zu haben, dennoch sind die Einschaltquoten höher. Im Netz gibts natürlich denselben Effekt, und dem Niveau sind natürlich nach unten kaum grenzen gesetzt. ich seh das aber weniger als Problem, das ist eben so, und vielleicht hätte Gutenberg seine beweglichen Lettern fix eingeschmolzen, wenn man ihm ne Bild-Zeitung in die Hand gedrückt hätte und gesagt, wo das alles auch hinführen wird, aber die Bild ist kein Gegenargument zum Buchdruck, und oxy:brain ist kein Gegenargument zum Internet.

Gefährdet ist aber auch die Zensur und das gesellschaftliche Vergessen. Das adenauersche „Was interessiert mich mein Geschwätz von gestern“ ist in einer Zeitungsdruck/Altpapier-Gesellschaft wohl einfacher gewesen wie in einer Internetgesellschaft, wo man mit nem Link wieder auf Früheres verweisen kann. Oder ganz trivial: an der aktuellen Debatte um Jugendschutz, Schnittberichte, Game-„Entschärfung“ für den deutschen Markt zeigt sich grade die Idiotie der Jugendpolitik in Deutschland. Mit immensem Aufwand werden da sinnlose Zensurmaßnahmen durchgesetzt, während eine kompetente Medienpädagogik an den Schulen mangels Stellen und einigermaßen zeitgemäßer Lehreraus- und Weiterbildung nicht stattfindet. Denkt mans größer, wirds noch lächerlicher: Wir haben viel zu wenig Kitas und Ganztagesschulen, keine Bildungsangebote für bildungsferne und benachteiligte Jugendliche, aber bei Tomb Raider ist das Blut grün, dann wird die Sozialisation schon hinhauen. Ich glaube, die Absurdität des Ganzen ist selten so sichtbar gewesen wie heute, dem Netz sei Dank.

2. Macht und Kontrolle im Internet

– Wer sind deiner Meinung nach die Akteure im Netz, die Macht ausueben? (Mit Macht meine ich sehr allgemein die Faehigkeit und den Willen dazu, Anderen Verhaltensweisen zuzumuten, die sie im eigenen Interesse in dieser Form nicht wahrgenommen haetten. Darunter faellt auch das „Hinnehmen“ von was, z.B. der prinzipiellen Protokollierbarkeit meines Surfverhaltens etc.)

– Regierungen? Provider? Institutionen wie ICANN, oder die IETF? Softwarehersteller? Konzerne? Die NSA? Hacker? Alle User? – bei letzterem denke ich an die Wahlen (oder den lobenswerten Versuch“ von Wahlen) der ICANN. Alle davon, auf unterschiedliche Weise? Auf welche? – Inwieweit werden „Strukturen“ zu Quellen von Macht? Ich denke z.B. an „Code“, der Regeln aufstellt und aushebelt, so z.B. eine Software wie Napster, die Copyright-Eigentuemern Kontrolle ueber Medien nimmt. (d.h. als „Macht“ nicht mehr unbedingt an konkreten Personen festgemacht werden kann)

Himmel, Richie, du hast doch schon deinen Foucault gelesen? Und den Weber doch auch? Du wirfst da derbe Machtbegriffe durcheinander, und das kann ich jetzt nicht alles aufdröseln. Aber selbstverständlich üben alle Akteure im Netz Macht aus, ist Macht ein Geflecht, das die Gesellschaft und das Netz als Ganzes durchzieht. Das der Foucault. Macht legitimiert sich auf unterschiedliche Weisen – das der Weber. Die ICANN-Geschichte ist der klassische Versuch der Legitimierung nach Weber, auch wenn das mit der demokratischen Legitimierung nicht wirklich hingehauen hat. Strukturen, die von ICANN vorgegeben werden, können darüber hinaus technisch und/oder sozial überwunden werden – Stichwort alternative Namensräume, z.B.

Die verschiedenen Typen von Macht, die im Netz ausgeübt werden – darüber muss man wohl weitere Magisterarbeiten schreiben. Um einfach mal das Fass ein Stück weit aufzumachen:
– Die ICANN definiert einige TLDs, unter denen nach bestimmten Richtlinien Server angesprochen werden können. Dass die ICANN selber von verschiedensten Interessensgruppen beeinflusst wird – Stichwort .xxx – nur am Rande. Nationalstaaten entscheiden, wer wiederum die Rechte in Bezug auf ccTLDs definiert und ggf. durchsetzt. Dabei sind sie gelegentlich außenpolitischem Druck ausgesetzt, müssen ggf. hinnehmen, dass ausländische Provider gezwungen sind, Inhalte ihrer Server zu sperren usw. Das ist eine recht gut greifbare „Macht“, die da wirkt, die ist in den traditionellen nationalstaatlichen und rechtlichen Strukturen angesiedelt.
Kontrastier das mit der Macht, die ein Proxybetreiber ausübt, der so gesperrte Domains wieder zugänglich macht – völlig andere „Art“ von Macht, die da ausgeübt wird, völlig anders legitimiert.
Kontrastier das mit der Macht, die Leitmedien im Netz ausüben – die schreiben z.B. über eBay und über die Gefahren der Tauschbörsen. Sie publizieren eher weniger Anleitungen für I2P oder die Verwendung alternativer DNS-Server. Aus verschiedensten Gründen, der größte wird sein, dass das wenig Leute interessiert und damit kein Geld verdient wird. Was für eine Art Macht ist hier am Wirken? Die zurichtende Gewalt des globalen Kapitalismus, der gerade die freie Presse auch auf Gewinnmaximierung hinoptimiert? :o)
Nichtsdestotrotz werden solche Anleitungen geschrieben, werden alternative Freiräume im Netz geschaffen… und welche Macht wird von wem dadurch nun ausgeübt? handelt es sich hier in erster Linie um Macht oder doch nicht eher um die Überwindung von Machtstrukturen? Oder stellt die Überwindung einer strukturellen Macht nicht zwangsläufig wieder eine „Machtausübung“ dar?
Du siehst, hier wirkt Macht auf unterschiedlichsten Ebenen mit unterschiedlichster Legitimation, und überall zeitigt sie Effekte. Teilweise mit anderen Schwerpunktsetzungen und unterschiedlicher Effektivität als im RL, aber das Prinzip ist dasselbe. Besser gesagt, die Prinzipien, weil „die Macht“ gibts bloß bei Star Wars, im Netz gibts die nicht, nur eine Vielzahl davon.

– Wie legitimiert sich Macht bzw. die unterschiedliche „Macht“, die ausgeuebt wird? Wer legitimiert z.B. das Sperren von Inhalten durch Provider, das Abhoeren von Kommunikationen durch Regierungen und Geheimdienste, Reverse-Engeneering und das Veroeffentlichen von Programmen wie DeCSS oder den Premiere-Hack durch Hacker?

ich glaub, das hab ich bereits weitgehend beantwortet, jedenfalls, soweit mir das in dem Rahmen grade möglich ist. Aber das ist auch gar nicht schlecht grade, denn ich muss heut abend noch ein, zwei andere Sachen machen. ich weiß nicht, obs in der nächsten Runde alles andere zu beantworten reicht, aber ein Tipp am Rande: stell deine Fragen in Zukunft ein wenig konkreter, ein wenig spezifischer in Bezug auf deine Interviewpartner. Die Vergleichbarkeit der Antworten wird dann nicht mehr so gut sein, aber in dem Kontext grade kannst du eh nur qualitativ arbeiten. Du machst viel zu riesige Fässer auf, und das sind Brocken, an die will niemand ran, der nicht grade irgendwie ins Beantworten von Interviewfragen ganz besonderen Ehrgeiz setzt. Und, mal Hand aufs Herz: wieviel haben dir bisher deine Fragen zumindest *ansatzweise* begonnen zu beantworten?

Zugegeben – du bist der erste.

Siehste? Aber glaub mir, das lernst du noch.

Sicher?

Ja. Vertrau mir.

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2 Responses to gulli:board-Nostalgie und ein Interview mit mir selber…

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